Autorentext:
Einer der Arbeitsschwerpunkte Paulo Freires ist über mehrere Jahre in Afrika gewesen. In verschiedenen früheren portugiesischen Kolonien ging er mit den Menschen den Zielen der Befreiungsbewegungen entgegen und fragte unter anderem, ob es nach Jahrhunderten der Kolonialgeschichte noch afrikanische Lebensweisen, Produktionsverhältnisse, Kulturen, Sozialwesen gebe, die zu entdecken und zu erneuern seien. In seinen verschiedenen Kampagnen ging es ihm um die Entkolonialisierung des Bewusstseins. Überall – auch im Gesundheits- und Erziehungswesen, in der landwirtschaftlichen Beratung sei es von zentraler Bedeutung, dass das Volk sich seiner eigenen Geschichte bemächtige, das koloniale Erbe zu überwinden, sich selber in dem Prozess der Aneignung von Geschichte zu stärken, seinen eigenen Weg der Befreiung zu gehen. Dabei war ihm der Gedanke Amilcar Cabrals nahe, es gebe keine Revolution, keine Befreiung ohne Träume nach vorne, ohne die Sehnsucht nach einer menschlichen Zukunft. In einem seiner Handbücher der Volkskultur wird ein Rechtsgedanke betont: „Das Recht unseres Volkes, das jetzt frei von kolonialistischer Ausbeutung ist, zu lesen, zu schreiben, schöpferisch zu sein, sich auszudrücken, seine Kultur zu entfalten.“ Gegen die kapitalistische Politik der Kolonialisten gerichtet, wurde die Schöpfung einer wirklich gerechten Gesellschaft in die Hände des Volkes gegeben – einer Gesellschaft ohne Ausbeuter und Ausgebeutete, einer veränderten Welt der schöpferischen Arbeit. So heißt es unter der Überschrift „Arbeit und Veränderung der Welt“: „Der Baum gehört zur Welt der Natur. Das Boot, das Antonio und Pedro machten, gehört zur Welt der Kultur, die die Menschen durch schöpferische Arbeit erschaffen.“ Diese nicht-entfremdende Arbeit gebe den Frauen und Männern ihre Würde, ihre gegenseitige Achtung. Arbeit wird hier gedeutet als Beitrag zur Schaffung einer gerechten Gesellschaft, einer Gesellschaft ohne Ausbeuter und Ausgebeutete – freilich in dem gemeinsamen Gehen eines langen Wegs, in der solidarischen und dialogischen Gestaltung eines geschichtlichen Prozesses.